Liebe Juliane,

ich hatte den Text mit dem Mann im See auch einem Freund geschickt, den ich seit langen Jahren kenne – ich habe ihm aber natürlich nicht von Patrick erzählt! Er hat mir heute dies dazu geschrieben:

Ich schrieb Dir ja schon, dass die Geschichte mich auf seltsame Weise berührt, ich vermag es immer noch nicht ganz zu erklären, vielleicht hat es damit zu tun, dass dieses ganze Setting und vor allem all das, was in dem Text eben NICHT gesagt wird, mich beunruhigt. Es geschieht irgendwo und zugleich nirgendwo, an einem offenbar ganz konkreten und sehr konkret beschriebenen Ort, der aber zugleich nirgendwo angesiedelt ist. „Niemand kommt hierher.“ Es kommt nicht darauf an, wo. Es kommt nicht darauf an, wann. Alles ist so seltsam in der Schwebe.

Wer ist diese Frau? Warum ist sie dort? Sie wohnt wohl nicht einmal ständig hier, denn die Hütte ist angemietet. Die Frau unterliegt keiner Bedingtheit und offenbar auch keinen Zwängen, sie hat eigentlich nichts zu tun. Sie ist nur da, um der Geschichte Obdach zu geben, in der sie einem Mann Obdach gibt, in ihrem Haus und in ihrem Körper.

Und genau wie sie hat auch der Mann keine Geschichte, kommt von irgendwo, verschwindet nach irgendwo. Ein Findling (das Wort ist ja offenbar absichtsvoll eingefügt.) Das einzige, was wirklich ist, ist die Begegnung der beiden. Und dieses „Erzählen Sie das niemandem!“, das der Mann ihr zur Begrüßung sagt, scheint sich auf die ganze Geschichte zu beziehen – die Verfasserin verrät uns nicht, warum der Mann durch den See schwamm und warum er am Schluss der Geschichte dort wohl seinen Tod findet, obwohl, wir wissen es nicht, denn die Protagonistin verweigert die Bestätigung, dass die gefundene Person wirklich dieser Mann ist.

Was ich gern mag, ist das Tempo des Erzählens, es ist ruhig und nirgendwo voreilig, es ist unbemüht und sicher. Ich mag Details, die wie nebenbei miterzählt werden. Der begrüßende Handgriff des Dorfarztes, mit dem er zugleich den Puls fühlt. So etwas. Das sind so Momente, in denen die Geschichte, während sie doch schwebt, mit ihren Füßen kurz den Boden berührt.

Ich bin nicht ganz sicher über die Beschreibung des Moments, in dem die beiden miteinander schlafen, so etwas ist das Schwerste, aber es ist erleichternd unpeinlich, und wie dabei plötzlich das Tempo angezogen wird und die Hast des Liebesakts sich in einer Atemlosigkeit der Sätze zeigt, wie da plötzlich das Bild vom Untertauchen im Wasser auftaucht, das finde ich gut.

Und das Seltsamste und Wahrste ist der Schlußsatz: „Das ist niemand, den ich kenne.“ Genau. Dass er bei ihr war, dass sie zwei Nächte hatten, das alles bedeutet nicht, dass sie ihn kennen müsste. Sie haben sich nichts erzählt und bleiben einander unbekannt. Obwohl. Obwohl er sie gesucht haben muss. Das ist das Beunruhigende, das ich meine. Etwas, das sich nicht erschließt. Und das am Schluss so ein Gefühl von Irritation, ja von Bedrohung stehen lässt.

Liebe Juliane, kannst Du damit etwas anfangen? Oder ist das zu weit weg von Eurer Vergangenheit – oder gerade weit genug entfernt?

Bitte laß nicht zu lange auf Antwort warten,
Clara