Liebe Clara,

nun ist schon fast wieder eine Woche vergangen, seit wir telefoniert haben. Und ich denke immer wieder darüber nach, was Du mir gesagt hast. Wirklich. „Geh nicht dorthin“, sagst Du immer wieder; Du hast es ja auch schon so geschrieben.

Aber – ich bin doch schon dort! Schon so lange, wie ich jetzt merke. Warum kannst Du nicht verstehen, daß ich Patrick dort nicht allein lassen kann? Genau dort:

Text von Patrick:

Ich erinnere die Rückkehr nach Hause; und es gibt keinen Vater mehr dort. Die Welt ist verändert, die Namen der Klassenkameraden sind nur mühsam erinnerlich.

Ich erinnere mein Zimmer: Die stinkenden Schuhe und Kleider der Mutter in einem Schrank dort. Ich erinnere die übelriechende Wäsche der Mutter in einem Korb im Badezimmer, jeder Atemzug dort ein Schlag ins Gesicht.

Ich erinnere die im Kommando-Ton abverlangten Arbeiten, die der schmale Junge verrichten musste, Renovierungen und Kohlen schaufeln: „Bist Du willens und in der Lage?“.
Nein. Weder – noch.

Ich erinnere meine Rechtlosigkeit: „Mach‘ die Augen zu, dann siehst Du, was deine Rechte sind!“. Ich habe die Augen geschlossen und nichts gesehen.

Als ich ihn zuletzt sah – ein Mann in den besten Jahren -, war er allein. Er hatte eine Affäre beendet, die ihm selbst wie die gelebte Zusammenfassung aller früheren Erfahrungen erschien, die ihm in kürzester Zeit und intensiv vor Augen führte, wie er geradezu masochistisch-lustvoll sein inneres Wohlbefinden im Kontakt mit Frauen auf’s Spiel setzte; getrieben von der Sehnsucht nach Wärme, Anerkennung, Liebe; sein fragiles Selbst in die Obhut obskurer Menschen gab, die wenig Skrupel hatten. Seine Bedürftigkeit, seine kindliche und naive Hingabe ausnutzten für ihre hintergründigen Interessen.

Eines würde ich doch gern wissen von Dir, liebe Clara: Dein Text ist – ja, er ist sehr schön, seltsam, auch geheimnisvoll. Und man erfährt eigentlich nichts über den Mann darin. Nichts über sein Innenleben, seine Gedanken – einfach nichts. Wie bist Du darauf gekommen – wo Du doch schon so viel über Patrick weißt? Gibst Du mir noch einen Einblick in Deine „Werkstatt“? Das würde mich sehr freuen!

Deine Juliane